Wenn ab diesem Mittwoch bei den Turn-Europameisterschaften im türkischen Mersin nur rund 63 Männer und 60 Junioren aus 20 Nationen an die Geräte gehen – und damit ein um etwa die Hälfte reduziertes Teilnehmerfeld –, steht kein Deutscher auf den Startlisten. Der Deutsche Turner-Bund (DTB) hatte bereits im Oktober entschieden, keine Delegation in das Corona-Risikogebiet an der Mittelmeerküste zu schicken. Für Schleswig-Holsteins Turn-Hoffnung Thore Beissel ist damit ein lange gehegter Traum geplatzt.
Beissel hätte Chancen auf eine EM-Medaille gehabt
„Die EM ist für einen Jugendlichen einer der größten Wettkämpfe, die man erreichen kann“, sagt der 18-Jährige Athlet im Gespräch mit KN-online. „Daher ist die Nicht-Teilnahme für uns Turner sehr schade.“ Der von der Stiftung Kieler Sporthilfe geförderte Beissel zählt zu den besten 17- und 18-Jährigen, die der DTB derzeit in seinem Bundeskader vereint. Und die sich bei den deutschen Meisterschaften in Top-Form präsentierten. In der Türkei hätte auch Beissel eine Medaillenchance gehabt. Ausgeträumt!
„Wir stellen die Gesundheit unserer Aktiven vorne an. Auch die Gefahr einer möglichen Quarantäne über die Weihnachtsfeiertage wäre ihnen nicht zuzumuten“, sagte Sportdirektor Wolfgang Willam im Zuge der Absage. Dass weitere Nationen wie Russland, Großbritannien, Frankreich und die Schweiz ebenfalls auf eine EM-Teilnahme verzichten, ist für Beissel freilich nur ein schwacher Trost.
Erhöhung des Trainingsumfangs auf 27 Wochenstunden
Als 15-jähriger zog er im August 2018 ins Internat des Olympiastützpunktes Berlin und erhöhte durch die bessere Abstimmung zwischen Schule und Sport seinen Trainingsumfang von 18 auf 27 Wochenstunden. Sein sportliches Fernziel war die zunächst für Mai 2020 geplante Junioren-EM in Baku (Aserbaidschan). Wegen der Corona-Pandemie wurden die kontinentalen Titelkämpfe im Frühjahr erst auf den jetzigen Dezember-Termin und später – auch aufgrund des Krieges zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach – nach Mersin verlegt.
Seinen Frust über die schuldlos verpasste EM-Chance hat Beissel mittlerweile verarbeitet. Zurück sind die Zuversicht und der Optimismus, dass er schon bald für Furore auf dem Turn-Parkett sorgen kann. „Ich bin mega happy, dass ich 2021 meinen Platz im Perspektiv-Kader des DTB behalten werde“, sagt der deutsche A-Jugendmeister am Sprungtisch, der bisher insgesamt 16 nationale Medaillen gewonnen hat.
Seinen 18. Geburtstag feierte Beissel in einer Limousine
Dreimal turnte Beissel im deutschen U 18-Team, mit dem er 2019 bei Europas Olympischen Jugendspielen in Baku Platz acht belegte. Wegen dieser Erfolge hat Thore den Wechsel nach Berlin zu den Trainern Sascha Münker und Brian Gladow nie bereut, und auch schulisch läuft es gut. „Ich fühle mich hier sehr wohl, habe viele Freunde nicht nur unter den Turnern gefunden. Die haben mich an meinem 18. Geburtstag mit einer Limousine abgeholt, das war ziemlich cool“, erzählt der Kieler, der seinen Wurzeln aber treubleibt.
So oft wie möglich fährt Beissel am Wochenende zum Entspannen nach Hause – mit der Bahn, denn für den Führerschein war bisher noch keine Zeit. In Kiel trifft er sich dann mit den alten Turnkollegen meist in der Halle. Bei Einzelwettkämpfen startet er weiter für seinen Heimatverein TSV Kronshagen, dem er sich sehr verbunden fühlt: „Dort habe ich Schwimmen gelernt und beim Kinderturnen angefangen. Im Kieler Leistungszentrum hat mir dann Landestrainer Dietmar Popp neun Jahre lang die Grundlagen des Gerätturnens beigebracht“, erinnert sich Beissel, der neben der Vielseitigkeit seiner Sportart auch die familiäre Atmosphäre in der deutschen Turn-Szene liebt.
2021 will Beissel sein Abitur in der Tasche haben
Aktuell schränkt ihn Corona beim Üben in der Halle vergleichsweise wenig ein, denn Kaderathleten dürfen in den Stützpunkten unter diversen Hygiene-Auflagen trainieren. Im Frühjahr will Beissel sein Abitur bauen und in die Sportförder-Kompanie der Bundeswehr aufgenommen werden.
Anfang Juni stehen dann seine ersten deutschen Meisterschaften bei den Senioren an, naturgemäß eine sehr schwierige Aufgabe. Doch der DTB hat als Motivation für die jüngeren Männerturner, die sich wie Beissel langfristig auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris vorbereiten, schon das erste Ziel ausgerufen: die Weltmeisterschaften im nächsten Oktober in Japan. Von Jörg Schacht